Kein Happy-End

Als ich vor 22 Jahren nicht wusste, was ich in meinem Leben mit meinem Leben anfangen sollte, tat das Arbeitsmarktservice das, was es immer tut:
Es schickte mich in einen Kurs.

Und dort saß ich dann neben einem Typen, dessen Geschichte heute nur wenige kennen: Rudi.


Nachdem wir ein paar Wochen HTML, PHP und MySQL Beispiele abgetippt hatten, erhielten wir ein Zertifikat mit dem Titel “Internet-Programmierer” und so dachte Vater Staat, würden gestrandete Möchtegern-IT-ler aus den 90ern das neue Jahrtausend beherrschen können.

Dieser AMS-Kurs hat sicher viel gekostet und entsprechend gar nichts gebracht, außer einer Sache: 5 Personen aus dieser 10er Gruppe dachten kurz, sie könnten jetzt eine neue österreichische Microsoft-Variante als Firma gründen.
Rudi und ich waren zwei davon.

Ohne das nötige Wissen und Geschäftskontakte war dieses Unterfangen aber schwer, und so war nach einigen Monaten auch nicht viel mehr drinnen als ein paar inoffizielle Aufträge der Marke:

Einzelunternehmer Handwerker Huber will auf seiner Front-Page Webseite ein paar OnMouseOver-Einfärbungen seiner Links haben.

Und so verdiente man sich eben 100 Euro zum Arbeitslosengehalt hinzu und wartete geduldig auf den Nächsten 30-Minuten Job … bis zu zwei Wochen.

Ich hatte dann doch das Glück über - man glaubt es kaum, per klassischen Bewerbungsschreiben - einen richtigen Job zu bekommen und mein Leben in geordnete Bahnen zu bekommen. Doch was wurde aus Rudi?

Die richtige Wahl im Leben

In Fernseh-Sendungen mit Titel “Die Auswanderer” erfährt man skurile Details über Wünsche und Ideen im Ausland und dass diese auch scheitern können. Doch man sieht nie, was dann nach 5 Jahren mit solchen Menschen passiert.

Rudi hatte noch bevor ich ihn kennenlernte diese Erfahrung auch gemacht. Alle Ersparnisse wurden in ein Flugticket gesteckt und alle Güter im Heimatland wurden verkauft.

Als er dann gezwungenermaßen wieder in Wien ankam, weil ein fehlendes Sozialsystem im Ausland und “Kosten” für Medizin nicht gedeckt werden konnten, war dieser Traum geplatzt.
Zwar wird “bei uns” keiner leichtfertig dem Tod überlassen, doch auch unser Sozialsystem reduziert alles auf ein Minimum, wenn Lücken in der Beitragszahlung bei Versicherungen dokumentiert sind.

Der AMS-Kurs war dann eine der letzten “großen” Leistungen, die dem Kollegen gegönnt wurden, und die auch bei ihm kein Tor zu einem Arbeitsplatz öffnen konnten.

So blieb nichts weiter übrig als alle möglichen Kleinjobs anzunehmen, und so kamen bei mir gelegentlich Mails an mit der Frage, ob ich “bei einem Javascript” aushelfen konnte.

Die skurilste Szene war dann jene, als mir Rudi einen Zahnarzt empfahl, der mich gut versorgte, wärend Rudi mit der Assistenz versuchte einen “Deal” auszuhandeln, da er eine neue Füllung brauchte und deren PC für die Terminplanung offensichtlich ein paar Windows-Updates notwendig hatte.

Funfact-Frage: Wenn Zahnfüllung == Windows-Update, was ist dann eine Wurzelbehandlung wert?

Hier bemerkte ich, wie schwer man es hat, wenn man aus dem Sozialsystem herausgefallen ist und quasi mittellos dasteht. Ich hatte soetwas nie erlebt und konnte es mir auch gar nicht vorstellen, dass medizinische Leistungen einfach nicht erbracht werden.

Nicht meine Angelegenheit

Während ich nun Schritt für Schritt meine Fähigkeiten in Firmen ausbauen konnte, riss der Kontakt zu Rudi mehr und mehr ab, bis er eines Tages ganz aufhörte. Diverse “gemeinsame Projekte” wie Webspaces wurde aufgelöst und ich hatte auch weder Lust noch Zeit, weiter kleine PHP-Scripts in meiner Freizeit zu schreiben, wenn es doch viel spannender war in Unternehmen mit X-tausenden Personen Abläufe zu automatisieren.

Schnell hat man dann Phrasen wie

Ich kann mich nicht am alles kümmern.

vorgefertigt, um Anrufe schnell enden zu lassen, und man fühlt sich voll und ganz im Recht dabei.

Erinnerungen

Trotzdem werde ich den etwas pummeligen Mann nie vergessen, der ein witziger Kerl war, immer einen klassischen Wiener Spruch drauf hatte und ein bisschen wie “Garfield” durchs Leben schlenderte.

Bis heute spreche ich die Speise Gnocci (ital. “Njoki” gesprochen) scherzhaft mit Rudis Betonung “Gnoootschiii” aus, da er sich diese gerne mit diversen Soßen zubereitete.

Auch andere Wortspiele wie “File-Shave” nutze ich noch heute gelegentlich, so wie ich sie damals von ihm gehört hatte.

Und je länger ich darüber nachdenke, wächst mein schlechtes Gewissen, den Kontakt damals einfach so beendet zu haben.

Endstation

Es war im Jahr 2009, als ich spontan auf die Idee kam, nach Rudi per Google zu suchen.
Gefunden wurde nur ein Eintrag einer Pfarre mit dem Laut:
Heilige Messe, für verstorbenen R.

Getriggert fragte ich dann weiter herum und so wurde mir die Geschichte weitergeleitet, dass sich Rudi wegen seiner vielen Probleme und körperlichen Situation das Leben genommen hatte.

Ein Ende, dass sich dieser Mann auch bei all seinen Fehlern wirklich nicht verdient hatte.

Fazit

Es ist Weihnachten.

Es wird wie jedes Jahr Zeit mein Weihnachtsgeld zu überweisen.

Und immer, wenn ich mich kritisch frage, ob Volkshilfe, Caritas und andere Organisationen eine Spende verdienen, dann denke ich mir, ob vielleicht eine weitere Behandlung, ein weiterer Kurs, ein weiteres Gespräch Rudi von seinem letzten Weg hätte abhalten können.

Auch ich hätte damals abstürzen können, als ich wenig hatte und es war eine gute Portion Glück, die mir Arbeit, Einkommen und “Auskommen” beschert hat. Und all das wurde durch soziale Einrichtungen ermöglicht, die es gestatteten schwierige Zeiten zu überstehen.

Manchmal reicht eben ein kleines Ereignis, das alles ins Rollen bringt, zum Guten oder zum Bösen.

Zitat aus Göthe’s Faust:

Erinnrung hält mich nun, mit kindlichem Gefühle,
Vom letzten, ernsten Schritt zurück.
O tönet fort, ihr süßen Himmelslieder!
Die Träne quillt, die Erde hat mich wieder!

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Wenn sich eine triviale Erkenntnis mit Dummheit in der Interpretation paart, dann gibt es in der Regel Kollateralschäden in der Anwendung.
frei zitiert nach A. Van der Bellen
... also dann paaren wir mal eine komplexe Erkenntnis mit Klugheit in der Interpretation!